Reinkarnation: Anjas Reise in ihr früheres Leben

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Markusplatz, Venedig, Italien, im Jahr 2010. Staunend schaut sich Anja um, schließt dann die Augen und atmet tief ein und aus. Als sie die Augen wieder öffnet, stehen Tränen darin. Langsam überquert sie den großen Platz, fährt andächtig mit der Hand üb

Markusplatz, Venedig, Italien, im Jahr 2010. Staunend schaut sich Anja um, schließt dann die Augen und atmet tief ein und aus. Als sie die Augen wieder öffnet, stehen Tränen darin. Langsam überquert sie den großen Platz, fährt andächtig mit der Hand über die grauen Steine des Säulengangs. Reden möchte sie im Moment nicht.

Wir nehmen auf den Stühlen des Traditionshauses Caffè Florian Platz. Seit mehreren Jahrhunderten ist es beliebte Anlaufstelle von Reisenden und Literaten. Hier haben schon Goethe, Lord Byron und Honoré de Balzac ihren Kaffee getrunken. Auch Casanova kam zwischen seinen amourösen Abenteuern gern auf ein stärkendes Heißgetränk vorbei.

"Cafés gab es noch nicht, als ich das erste Mal hier war", erklärt Anja nach einer Weile. "Wann wurde das Florian eröffnet?" Am 29. Dezember 1720 füllt sich in dem Kaffeehaus die erste Tasse mit dem schwarzen Sud – "ah, das muss rund 90 Jahre NACH meiner Zeit in Venedig gewesen sein", nickt die 36-Jährige aus Wiesbaden.

Eine eigenwillige Erklärung dafür, dass sie sich an das Lokal unter den Arkaden der Procuratie Nuove nicht erinnern kann. Und eine, die viele Fragen offen lässt. "Ich meine damit mein früheres Leben", erläutert Anja. "Mich gab es schon einmal – und zwar hier, in Venedig."

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"In diesem Moment, der für mich sehr emotional war, wollte mich die Therapeutin eigentlich zurückholen", fährt Anja mit ihrer Geschichte fort. "Aber ich konnte noch nicht. Da war so ein Gefühl – ich spürte, dass ich noch weitergehen musste. Es ging mir

"In diesem Moment, der für mich sehr emotional war, wollte mich die Therapeutin eigentlich zurückholen", fährt Anja mit ihrer Geschichte fort. "Aber ich konnte noch nicht. Da war so ein Gefühl – ich spürte, dass ich noch weitergehen musste. Es ging mir immer schlechter, meine Lymphdrüsen schwollen an, doch ich eilte weiter. Hinweg über einen großen Platz mit einem protzigen Palast, einer pompösen Kirche und einem hohen Turm. Halt machte ich erst vor einem prunkvollen Palazzo; während ich noch zögerte hineinzugehen, trat schon ein Dienstbote heraus und geleitete mich in ein wunderschönes Zimmer mit Wandmalereien. Es gab auch eine Puppenstube – und einen Spiegel. Ich konnte mich darin sehen. Das war vollkommen bizarr."

Anjas Spiegelbild zeigt einen Mann um die 30. Er trägt eine schnabelartig geformte Maske, einen langen schwarzen Mantel und einen Hut (siehe Bild). "Ein Kind wurde von dem Diener ins Zimmer getragen. Es war vielleicht sieben." Anja sieht heilende Wunden, die wohl durch ein Öffnen von Eiterblasen entstanden waren. "Das Mädchen schien kein Fieber zu haben und ihre Augen sahen klar aus. Irgendwie wusste ich, dass sie es schaffen wird. Das gab mir Hoffnung."

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"Ich verließ das Haus und suchte eine Kirche auf. Sie sah außergewöhnlich aus, gar nicht nach Gotteshaus. Sechs Säulen umrahmten das Eingangsportal." Anjas Männerkörper nimmt auf den Bänken Platz, zieht seine Maske ab, weint und betet stundenlang. Für

"Ich verließ das Haus und suchte eine Kirche auf. Sie sah außergewöhnlich aus, gar nicht nach Gotteshaus. Sechs Säulen umrahmten das Eingangsportal." Anjas Männerkörper nimmt auf den Bänken Platz, zieht seine Maske ab, weint und betet stundenlang. Für alle Kranken, bittet um Heilung und Erbarmen. "Dabei ging es mir selbst immer schlechter, meine Kräfte schwanden zusehends. Ich schaffte es kaum aus der Kirche hinaus. Doch irgendwie gelang es mir, eine Schiffsanlegestelle (siehe Bild) zu erreichen. Das Boot, das dort lag, war voll mit Menschen. Sie waren auch alle krank. Ich stieg ein. Ich wusste nicht, wohin die Fahrt gehen würde, aber ich spürte, dass meine Reise hier zu Ende war."

Anja lässt sich von der Therapeutin langsam wieder ins Heute holen. Eine Weile liegt sie noch etwas benommen auf dem blauen Leder. "Dann haben wir uns lange unterhalten – das war extrem wichtig für mich." Gemeinsam begeben sich die beiden Frauen im Internet auf Spurensuche, was dank Anjas deutlichen Beschreibungen kein Problem ist. „Wir haben herausgefunden, dass ich als Pestarzt in Venedig lebte“, hält sie fest. "Daher auch diese Maske: Darin steckten Kräuter, die eine Ansteckung verhindern sollten – was natürlich Quatsch ist, wie man heute weiß. Und so hat es mich dann wohl auch erwischt. Vermutlich wollte ich zum Schluss zum Sterben auf eine Insel übersetzen, auf der viele Kranke isoliert wurden."

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Während Anja den Markusplatz schon im Internet wiedererkannte – "das heißt, ich muss zur großen Pest um 1630 dort gelebt haben, denn früher sah der Platz anders aus" – entdeckt sie manches erst bei ihrem aktuellen Venedig-Trip: "Gestern sah ich zufälli

Während Anja den Markusplatz schon im Internet wiedererkannte – "das heißt, ich muss zur großen Pest um 1630 dort gelebt haben, denn früher sah der Platz anders aus" – entdeckt sie manches erst bei ihrem aktuellen Venedig-Trip: "Gestern sah ich zufällig die Kirche, in der ich so lange betete. Wahnsinn, dass die noch steht! Heute sitzt darin eine Fakultät der Uni", schüttelt sie verblüfft den Kopf. Bis morgen Anjas Flugzeug zurückgeht, wird sie wohl noch manch erstaunliche Entdeckung machen …

Anjas Kaffee ist über ihrer Erzählung kalt geworden. Sie trinkt ihn trotzdem aus: "10,50 Euro für einen Cappuccino, den lasse ich nicht stehen", schmunzelt sie augenzwinkernd. Man merkt, das jetzige Leben hat sie wieder – doch ihr voriges Spuren hinterlassen. "Ich bin Krankenschwester. Das ist mein Traumberuf, schon seit ich ein kleines Mädchen war", gibt die junge Frau zu. "Der Wille, Menschen zu helfen, zu heilen; das ist einfach ganz tief in mir drin, das ist meine Berufung." Eine Aufgabe, die sie aus ihrem früheren Leben ins aktuelle übertragen hat? "Ich denke schon, ja", antwortet sie nachdenklich.

Wir zahlen und schlendern durch die pittoreske Stadt. Plötzlich schießt fiepsend eine Ratte hinter einer Mülltonne hervor. Anja lacht: "Früher wäre ich jetzt schreiend davongelaufen. Ich hatte immer Panik vor Ratten."

Ob das damit zu tun hatte, dass die Tiere als Überträger der Pest gelten, möchten wir wissen. Anja zuckt mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Aber seit der Rückführung ist die Angst wie weggeblasen", erzählt sie, selbst ganz erstaunt.

Dann lächelt sie: "Wenn ich zu Hause bin, werde ich meiner Tochter eine kaufen. Sie wünscht sich so sehr ein Haustier. Und Ratten sind doch eigentlich ganz süß, nicht?"

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Mehrmals wütete die Pest in Venedig. Im frühen 17. Jahrhundert traf es die Lagunenstadt besonders hart: Trotz einer Quarantäne-Station und eines Krankenhauses rafft der Schwarze Tod die Menschen dahin. Über der Stadt hängt eine stinkende Wolke der Leichenfeuer, die Spuren von Tod und Verwesung lassen sich nirgends verbergen. Innerhalb von 17 Monaten (Juni 1630 bis Oktober 1631) fallen der Pest 46.536 der rund 140.000 Einwohner zum Opfer. Die Krankheit wird als Strafe Gottes gesehen, weshalb der Senat am 22. Oktober 1630 ein Versprechen an die Mutter Gottes beschließt: Für die Erlösung von der Pest wird für 50.000 Dukaten eine Kirche gebaut, die "Santa Maria della Salute" heißen soll. Und obwohl ihr noch Zigtausende erliegen, beginnt man gleich nach dem Ende der Seuche mit dem Bau.